REISEN TROTZ SCHULPFLICHT?

Wir üben unser Leben als reisendes Klassenzimmer.

„Aber ihr habt doch schulpflichtige Kinder. Wie könnt ihr denn länger auf Reisen gehen?“ 

Wer von unseren Plänen hört und weiß, dass wir schulpflichtige Kinder haben, ist zunächst einmal verwirrt. Denn zum Wegfahren sind ja eigentlich die Ferien da und wer sein Kind nicht pünktlich zum Unterrichtsbeginn in der Schule hat, bekommt es mit dem Jugendamt zu tun. Tatsächlich müssen in Deutschland Eltern, die ihr Kind wiederholt der Schulpflicht entziehen, mit hohen Geldstrafen und in besonderen Fällen auch mit Freiheitsstrafen rechnen. Es ist also nur verständlich, dass das Thema Schule schnell zur Sprache kommt und einigen Angehörigen mehr Sorge bereitet als alle anderen Aspekte unserer Reise.  

Wir verlassen Deutschland nicht wegen, sondern trotz der Schulpflicht

Bereits vorab – wir sind keine Schulgegner und haben selbst überwiegend positive Erinnerungen an unsere Schulzeit. Unser Sohn Len beendet gerade die zweite Klasse. Seine Lehrerin ist toll, die Klasse harmonisch, seine Leistungen prima. Wir verlassen Deutschland also nicht wegen, sondern trotz der Schulpflicht. 

Dennoch fanden wir es als Eltern mit angeborenem Fernweh immer befremdlich, dass Deutschland im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern unter „Schulpflicht“ nicht „Bildungspflicht“ sondern „Schulbesuchszwang“ versteht. Während Eltern in den meisten Ländern der Welt nämlich durchaus die Wahl haben zwischen Schule und anderen Bildungsformen (z.B. Homeschooling, Freilernen, Fernschulen), sind diese Optionen in Deutschland undenkbar. Die deutsche Schulpflicht gibt es seit 1919 und ist dementsprechend fest in unseren Köpfen verankert. So fest, dass Menschen mit Kindern ihre Träume von alternativen Lebensmodellen (wie z.B. lange Reisen) mit dem Tag der Einschulung gehorsam auf Eis legen. Selbst wenn sie – wie wir – nicht auf einen Ort angewiesen wären, um Geld für die Familie zu verdienen, untersagt ihnen der Staat eine selbstbestimmte Lebensgestaltung. Hält man sich vor Augen, wie andere Ländern das Thema Bildung handhaben und vor welchem Hintergrund die deutsche Schulpflicht vor 100 Jahren überhaupt eingeführt wurde, ist es schon seltsam, dass wir das nie in Frage stellen.

Mit der Abmeldung aus Deutschland greift keine Schulpflicht mehr

Damit wir uns nicht strafbar machen, melden wir uns kurz vor Aufbruch aus Deutschland ab. Denn nur für die in Deutschland wohnhaften Menschen gilt die Schulpflicht. Mit dieser Entscheidung erhalten wir zum Beispiel auch kein Kindergeld mehr, bleiben aber natürlich deutsche Staatsbürger und zahlen auch weiterhin Steuern. 

Nachdem ich mich berufsbedingt die letzten zwei Jahre mit dem Thema Kreativität und Lernen beschäftigt habe, fühlen wir uns zudem mittlerweile durchaus im Stande, den Wissensdurst unserer Kinder zu befriedigen und ihnen vor allem den Spaß am Lernen und Entdecken ihrer Welt zu vermitteln. Die Tatsache, dass 98 Prozent aller Kindergartenkinder hochgradig kreativ sind und unter den Erwachsenen nur noch traurige 2 Prozent diese Begabung beibehalten konnten, hat uns zusätzlich wachgerüttelt. Unser System und jede Grundschulklasse kann nur funktionieren, indem es Regeln gibt. Das ist verständlich und richtig so. Dennoch hat das automatisch zur Folge, dass wir Kindern ihre Neugierde, ihren  Spieltrieb, ihre Fantasie, ihren Bewegungsdrang ganz automatisch abtrainieren. Da hat kein Lehrer oder Schuldirektor Schuld daran, es geht einfach nicht anders. Wenn sich also unser Len derzeit nur über Dinosaurier austauschen möchte, muss er das in seiner Freizeit tun. In der Schule kann dieser Lust auf Dino-Wissen selbstverständlich nicht nachgekommen werden. Alle bekommen den gleichen Lernstoff zur gleichen Zeit. 

Vielleicht hätte ich Physik geliebt, wenn ich den Kontext verstanden hätte

Nur ist es bei Kindern mit dem Schreiben und Rechnen wie auch bei allen anderen Meilensteinen. Ist die kleine Mia noch nicht bereit zum Laufen, kann man sie noch so oft hinstellen und ihr erklären, sie müsse nur einen Fuß vor den anderen stellen. Sie wird wahrscheinlich umfallen wie ein Sack Reis in China. Weil sie eben noch nicht soweit ist. Genauso verhält es sich mit still sitzen, Grundrechenaufgaben oder dem Interesse, lesen zu lernen. Alle sind zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt bereit für den nächsten Schritt. Das kann in der Schule schon mal zu Frustrationen führen. Ich bin mir nach wie vor nicht sicher, ob ich Physik oder Chemie nicht ganz spannend gefunden hätte, wenn es mir unser Lehrer im richtigen Kontext erklärt hätte. Statt Physik mit spannenden Themen des Alltags zu erklären, gab’s doofe Formeln und Bulimie-Lernen. Rein mit dem unverständlichen Zeugs und am nächsten Tag zur Klausur wieder raus damit. 

Jede Woche beackern wir gemeinsam ein neues Thema

Darum freuen wir uns schon wahnsinnig drauf, gemeinsam mit unseren Kindern zu lernen und Themen zu beackern, von denen wir derzeit selbst keine Ahnung haben. („Mama, wie heißt diese Pflanze?“ „Mmmh, ja, tja, oh, schau mal, der Vogel da.“)

Jede Woche werden wir ein neues Projektthema aussuchen, das wir dann 4 Tage lang ganz gründlich durchgehen. Ob Pflanzenkunde, Dinosaurier, Wetterentstehung oder Ukulele spielen – wir planen, so richtig einzutauchen in eine Sache und diese spielerisch, kreativ und vor allem immer im aktuellen Kontext anzuwenden. Im besten Fall sind wir nach einer Woche alle Experten auf dem einen Gebiet. In jedem Fall haben wir mehr Ahnung als vorher.

Kinder sind von Natur aus neugierig und möchten unbedingt – wie auch beim Laufen oder Sprechen – Fortschritte machen.

Wenn wir diese Neugier ernst nehmen und fördern, kann und wird ein Kind überall schreiben, lesen oder rechnen lernen. Und noch so, so vieles mehr. 

8 Comments
  1. Sonja 6 Jahren ago

    Hallo Bine,

    ich werde Euch täglich verfolgen 😉 und mit dem Herzen bei Euch sein. Es treibt mir die Tränen (Freudentränen) in die Augen den Blog zu lesen. Gott, was bin ich stolz, wie Du das machst. Und ja – Physik war eben nicht so Deins 🙂
    Großartig, Hut ab, irre… Übrigens meine Tochter (3 Jahre) möchte auch ein Pony… und mein Großer ist nun auch fast 13. Schönen Parallelen…

    Viel Spaß…

    • Bine 6 Jahren ago

      Sonjaaaa, wie lieb von dir. Danke, zum Glück hatte ich ja dich 😀 Grüß deine Lieben.

  2. Ira 6 Jahren ago

    Wow, das wird die Reise Eures Lebens! Viel Spaß!!!

  3. Michael @mibi61 6 Jahren ago

    Ich finde das super spannend. Meine Kinder sind jetzt schon durch die Schule, das war echt ein Drama und ich bin ziemlich sauer auf das dt. Schulsystem. Und ich bin traurig, dass ich nicht den Mut hatte da mehr dagegen zu gehen. Neugier wurde ihnen systematisch aberzogen, am Ende hatten sie sich perfekt „auf das System eingestellt“ und ihr Lernverhalten auf die Notenvergabe optimiert. Ziemlich blöd.

    Da finde ich Euren Ansatz sehr erfrischend. Ihr habt die Chance vieles besser zu machen. Ich wünsche Euch die Kraft und Neugier, diese (Bildungs) Reise gut zu machen.

    Vielleicht hilft Euch diese Methode http://eduscrum.nl/de/ ? Ich habe das leider nie ausprobiert …
    Ciao

    • micha 6 Jahren ago

      Hi Michael,

      vielen Dank für deinen Kommentar. Wir sind sehr gespannt, wie das mit den Kindern und dem Lernen unterwegs funktionieren wird. Wir sind uns aber 100% sicher, dass es mehr Begeisterung für die Inhalte geben wird, als im normalen Schulalltag. Zum einen, weil die Kinder ihren „Lehrplan“ bei uns mit gestalten werden. Und zum anderen, weil wir unsere Themen nie „Kontextfrei“ vermitteln werden, so wie es häufig in der Schule ist („So, jetzt ist Dienstag acht Uhr und alle Schüler haben sich für Geometrie zu begeistern, auch wenn keiner Ihnen dafür einen Grund geliefert hat“).

      Das EduScrum ist ne coole Idee. Vielleicht sollte man das deutsche Schulsystem „agil transformieren“? 😉 Ist aber schon bezeichnend, dass das aus Holland kommt. Da gibt es so viele interessante, alternative Schul- und Lernansätze die in Deutschland natürlich alle nicht möglich wären. Aber vielleicht lernen wir ja mal was von unseren Nachbarn…irgendwann!

  4. Florian 6 Jahren ago

    Viel spaß

  5. Iris 6 Jahren ago

    Hallo liebe Familie Kruppa 🙂
    wir…genauer gesagt Giovanni und ich waren schon von Anfang an, als wir von Eurem Vorhaben erfahren haben begeistert. Leider musstet Ihr den Weg gehen und Euch in Deutschland abmelden, um dem Zwang von unserem Schulsystem zu entkommen. Hut ab…denn spätestens wenn diese Entscheidung getroffen werden muss, überdenk man sicherlich noch viele Male den Entschluss. Sehr schade, dass es in unserem Land nicht möglich ist eine solche Entscheidung frei zu treffen. Was allerdings bei mir wieder einmal das denken „typisch Deutschland“ ausgelöst hat, ist…… dass ihr somit KEIN Kindergeld erhaltet aber weiterhin Steuern bezahlen müsst!
    Als ich das gelesen habe, hatte ich so z u sagen „Blutdruck“ und konnte echt nur mit dem Kopf schütteln.
    Ein kleiner Teil von uns ist ja mit auf Eurer Tour 🙂 …… das heißt „Wir Giovanni & Iris “ sind die Vorbesitzer von Eurem Ducato Bus. Wir verfolgen Eure Beiträge und wünschen Euch noch eine tolle Zeit mit vielen unvergesslichen Erlebnissen. Alles Gute und weiterhin toi toi toi :-).

    • Author
      bine 6 Jahren ago

      Ihr Lieben, habt vielen Dank. Eigentlich ist es ein ganz schön großer Teil von euch 🙂 Wir lieben ihn nach wie vor und der Gute kommt viel rum. Ja, so ist das mit der Bürokratie, aber wir sind ja schon froh, dass es überhaupt geklappt hat:-)

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