VIVA ESPAÑA

Wer dem Sommer hinterher reist und dabei in Europa bleiben möchte, landet früher oder später in Spanien. Schon sechs Wochen sind wir mittlerweile im Land und wundern uns, wo eigentlich die Zeit geblieben ist. Denn nach einem nicht enden wollendem Sommer stehen auf einmal auch hier die Adventskalender in den „Mercados“ und die Woche haben wir uns glatt einen Glühwein mitgenommen. Danke, Lidl. ?
Wir können tagsüber zwar immer noch T-Shirt und kurze Hose tragen, aber am Morgen und Abend muss man sich kurz erinnern, dass der Wohnwagen nicht in Spandau, sondern Spanien steht. Es wird herbstlich kalt und die Zeiten, in denen wir Eltern sieben Uhr morgens schon mal im Vorzelt am Laptop arbeiten konnten, sind definitiv vorbei und werden auch vorerst nicht wiederkommen. Mitte November ist das aber auch völlig in Ordnung und wir haben unseren Wohnwagen derzeit so umgebaut, dass wir alle gemeinsam im hinteren Bereich schlafen können und dafür vorne eine große Sitzecke zum Uno spielen, frühstücken oder eben arbeiten zur Verfügung steht. Heute kaufen wir uns noch einen Läufer für den kühlen Boden des Wohnwagens, wir haben mittlerweile Bettdecken gegen Schlafsäcke getauscht und lassen nun häufiger die Heizung laufen. Der Winter kann kommen. ?

Doch bevor wir vom Später sprechen – hier eine kurze Rückblende.
Stippvisite in Frankreich
Nach unserem längeren Aufenthalt in Italien sind wir Ende September die französische Mittelmeerküste langgefahren und wussten bereits, dass wir dieses Mal nach mehreren Jahren Frankreich-Urlaub die Region gern mal nur streifen und uns gleich auf Spanien konzentrieren möchten. Also haben wir nur eine Nacht bei Nizza verbracht (unfreundlichster und dunkelster Campingplatz der Welt) und sind dann noch mal eine Woche in Südfrankreich am Strand geblieben. Hier zog schon allmählich der Herbst auf und wir holten zum ersten Mal die dicken Pullis aus den Boxen. Mit Madlen, Jens und ihren Kindern haben wir eine wundervolle Familie kennengelernt, die uns an stürmischen Abenden von ihrem Leben als Deutsche in der Schweiz berichteten und die kurze Zeit im ziemlich ungemütlichen Frankreich ungemein versüßten. Die umliegenden Städte des Campingplatzes waren verwaist, die Mitarbeiter kurz vor Saison-Schluss schon so durch, dass man fast ein schlechtes Gewissen bekam, noch da zu sein und die meisten Angebote vor Ort nicht mehr verfügbar. C’est la vie.

Warme Begrüßung in Katalonien
Umso mehr freuten wir uns also auf Spanien, wo wir Anfang Oktober auf einem wunderschönen Zeltplatz in Katalonien, ca. 1,5 Autostunden von Barcelona entfernt, einkehrten und gleich an der Rezeption – trotz langjähriger Frankreich-Liebe – bemerkten, wie grummelig doch oft die Franzosen und wie herzlich die Spanier sind.
Wir packten unsere dicken Pullis also wieder in den Schrank, waren glücklich, dem Herbst noch mal von der Schippe gesprungen zu sein, bauten unser Vorzelt auf und freuten uns auf Freunde, die am nächsten Tag aus Darmstadt zu uns stießen. Die nächsten Tage waren einfach nur entspannt, dafür aber wenig ereignisreich.

Wir beobachteten spektakuläre Sonnenaufgänge in der genauso spektakulären Bucht unseres Campingplatzes, waren reiten, baden, Sandburg bauen, haben viel mit unseren Freunden, aber auch anderen lieben Menschen zusammengesessen und nach fünf Tagen den großen Bruder unserer Kinder vom Flughafen in Barcelona abgeholt. Nach sieben Jahren mit Zwei-Wochen-Besuchs-Turnus war die Sehnsucht nach der nun fast dreimonatigen Trennung entsprechend groß, also wurde unser Sidney von einer aufgeregten und lautstarken Truppe in Empfang genommen.

Die nächsten zehn Tage mit ihm verbrachten wir sehr harmonisch und gemütlich, feierten Pauline’s Geburtstag, genossen die für das Mittelmeer ungewöhnlich spannenden Wellen und freuten uns einfach, wieder alle zusammen zu sein. Nur der für die Region und Jahreszeit berühmt-berüchtigte nächtliche Sturm hielt uns ordentlich auf Trab und machte, dass Micha eine halbe Nacht lang heldenhaft die Stangen unseres Vorzelts festhielt, dass wir unser Vorzelt auf- und wieder abbauten, dass wir schlussendlich den Stellplatz wechselten, weil wir uns für den wohl ungünstigsten, weil windfreundlichsten Ort des Campingplatz entschieden hatten.


Da zu der Zeit gerade die politischen Krawalle in Barcelona für ordentlich Unruhe in der Region sorgten, entschieden wir uns während unserer Zeit dort gegen größere Ausflüge und verließen Katalonien nach zwei Wochen mit einem leichten Gefühl von Wehmut. Zum einen, weil wir den Teil des Landes nicht wirklich kennengelernt hatten, zum anderen weil ein nahendes Unwetter uns zu einer spontanen Abreise zwang und wir etwas überstürzt das Weite suchten. Und wieder hieß es Abschied nehmen. Vom großen Bruder und Sohnemann, von Freunden und von neuen wundervollen Begegnungen, die uns in kurzer Zeit berührten und hoffentlich bald wieder unseren Weg kreuzen.

Gleichgesinnte treffen in Andalusien
Mit dem Unwetter im Nacken und einer beeindruckenden schwarzen Wolke im Rückspiegel gaben wir Gas und fuhren Richtung Andalusien. Schon im Vorfeld hatten wir uns die Region um La Herradura als mögliche Station herausgepickt, denn der Ort ist beliebter Treffpunkt für Reisefamilien aus der ganzen Welt. Viele überwintern hier, manche sind mittlerweile in die Region gezogen, andere machen nur einen kurzen Zwischenstopp auf ihrer Reise und die meisten – wie wir auch – mischen sich für ein paar Wochen ins Treiben, um sich auszutauschen und zu gucken, was es mit der Initiative „Worldschooling Andalusia“ so auf sich hat.
Also sind wir der Empfehlung einer deutschen Reisefamilie gefolgt und haben unsere (Vor-) Zelte auf dem Campingplatz Nuevo direkt im Ort La Herradura (=spanisch für Hufeisen, weil die Bucht so geformt ist) aufgeschlagen. Gleich am nächsten Tag sind wir zu einem der wöchentlichen Treffen und tatsächlich hat die Initiatorin Elin nicht zu viel versprochen. Rund 40 Familien aus der ganzen Welt versammelten sich in einem extra dafür bereitgestellten Café am Strand. Für die Kinder gab es unzählige Spielmaterialen und Spielkameraden, für die Eltern massig Gleichgesinnte zum Quatschen und Kennenlernen. Nach den Monaten in Natur und Ruhe fast ein bisschen erschlagend, aber wir haben unser Bestes geben und trotz größerer Überwindung mit englischsprachigen Kindern Ball gespielt (Len), mit französischsprachigen Kindern gebaut (Pauline) und mit wildfremden Leuten über Erfahrungen und Träume unserer Familie gesprochen (Bine & Micha). Völlig platt sind wir danach zurück zum Campingplatz und haben das Erlebte mit zwei anderen dort auch lebenden Reisefamilien abends erst einmal in unserem Vorzelt sacken lassen.

Mittlerweile sind wir schon drei Wochen hier und können noch immer nicht ganz in Worte fassen, was diesen Ort ausmacht und vor allem was er mit uns macht. Wir sind hier keine Exoten, sondern eine Familie von sehr vielen, die losgezogen ist, um etwas Neues auszuprobieren. Für die Kinder ist es gerade sehr schön zu erfahren, dass auch andere Kinder das Gleiche mit ihrer Familie erleben und deren Eltern nicht erstaunt nachfragen, sondern entspannt von ähnlichen Erfahrungen berichten. Für uns Erwachsene ist es hier natürlich auch sehr bereichernd, aber genauso anstrengend. Uns hat die Flut an Geschichten und Eindrücken in der ersten Woche fast ein bisschen die Schuhe ausgezogen, denn noch nie haben wir so oft so viele neue Menschen kennengelernt und sind dabei nicht selten gleich in lange und persönliche Gespräche gehüpft. Puuh.
Reisefamilien wie Sand am Meer
Die riesige Anzahl an Menschen, die ihr altes Leben im Hamsterrad verlassen haben, um mit ihren Kindern in eine alternative, erfüllendere Lebensweise zu starten, hat uns sehr nachdenklich gestimmt. Irgendetwas läuft doch augenscheinlich richtig schief, wenn so viele junge Menschen die Zeit mit ihren Kindern nur genießen können, wenn sie das Weite suchen.
Dann sind hier noch jene, die sich bewusst gegen eine Schulpflicht aussprechen und darum das eigene Land wegen sonst drohender Sanktionen verlassen mussten. Diese Menschen sind Freilerner, Homeschooler oder Unschooler und halten sich länger in Spanien auf, weil hier zwar Schulpflicht herrscht, die Auflagen und Kontrollen aber bei weitem nicht so streng sind wie in Deutschland.

Und dann gibt es jene, die schon seit vielen Jahren ein anderes Modell leben und hier weitere Inspirationen und Kontakte suchen. Wir haben tolle Menschen kennengelernt, die zum Beispiel als Hundeschlittenführer in Schweden gearbeitet haben und nun in wärmere Gefilde möchten, Familien, die auch zuhause im Zirkuswagen leben, andere, die eine eigene Gemeinschaft gegründet haben, schon seit vielen Jahren die Welt bereisen, immer mit Menschen aus anderen Ländern Häuser tauschen (House-Swapping), mit der Familie auf einem Boot leben usw.

Nicht zu vergessen jene, die in ihrem Leben einfach mal kurz die Pause-Taste gedrückt haben und sich nun eine kürzere oder längere Auszeit gönnen, um im Anschluss wieder ganz normal in Haus und Büro zurückzukehren.
Und all diese Menschen kommen mehrmals die Woche bei offiziellen oder inoffiziellen Treffen zusammen. Da gibt es viel zu erzählen und viel zu verarbeiten.
Schlaflose Nächte
Nach monatelangem emotionalem Frieden lagen wir auf einmal wieder nachts wach und haben uns gefragt, was eigentlich unser persönlicher Antrieb und Weg dieser Reise ist. Sind wir diejenigen, die gerade nur „Pause“ drücken oder ist das hier der Beginn eines ganz anderen Lebensmodells? Welche Bildungsform ist zukünftig die richtige für unsere beiden so grundverschiedenen Kinder? Wie und wo wollen wir leben? Und für welche Werte stehen wir als Familie? In jedem Fall ist uns bei den vielen Gesprächen mit anderen Reisefamilien eins klar geworden – wir wollen nicht „dagegen“ sein, sondern „dafür“. Wir lehnen das deutsche Schulsystem genauso wenig ab wie die Schulmedizin oder ein Leben zur Miete. Wir essen zwar wenig Fleisch, aber freuen uns auch mal über eine Bratwurst (Thüringer Gene ?). Unser ökologischer Fußabdruck kann sich derzeit sehen lassen und dennoch vertreiben sich unsere Kinder ihre Zeit nicht nur mit geschnitztem Holzspielzeug. Wir haben so viele Familien mit sehr eindeutigen Ansichten und Positionierungen kennengelernt, dass wir uns zwischendurch gefragt haben, zu welcher „Kategorie“ von Familie wir nun eigentlich gehören.

All diese Gedanken machen unseren Aufenthalt hier zu einer sehr intensiven Zeit, bei der – wie schon so oft auf früheren Stationen – weniger die Sehenswürdigkeiten, als die Menschen im Vordergrund stehen. Doch weil das Land und die Leute so toll sind, gibt es dazu noch mal einen gesonderten Beitrag.
Morgen kommt erst mal die Oma aus Bremen und im Dezember feiern wir Weihnachten mit dem großen Bruder. All das werden wir noch hier in La Herradura erleben, denn gerade die Kinder profitieren vom großartigen Angebot der Gemeinschaft (Halloween-Party, Laternenumzug, Töpfern, Lego-Club, Sport am Strand, organisierte Ausflüge etc.) und von den Freundschaften, die vor allem hier auf unserem urigen kleinen Campingplatz entstanden sind.

Seit über drei Wochen verbringt unsere kleine vierköpfige Gang jede freie Minute miteinander, baut Terrarien, fährt Skateboard, sitzt auf Bäumen, philosophiert über das Leben, trinkt Kakao und hat so viel Zeit zusammen, wie es in der alten Welt nur mit einem gemeinsamen Urlaub möglich gewesen wäre. Und weil die neuen Freunde auch in einer Reisefamilie leben, werden wir uns sicher im nächsten Jahr im schönen Portugal wiedersehen und dort anknüpfen, wo wir hier aufgehört haben.

Bis dahin genießen wir noch ein bisschen unsere „Hufeisen-Bucht“, lernen weiter spanisch und freuen uns auf viele weitere Begegnungen und Gespräche – in Zukunft hoffentlich auch öfter mit Einheimischen. Das kommt bei all den internationalen Reisefamilien derzeit nämlich definitiv zu kurz. Hasta luego!
